POTSDAM - Keiner der
Augenzeugen wird diese Nacht
jemals vergessen. Die Luft war
erfüllt vom Schreien und Stöhnen
der vielen Verletzten. Die toten
Russen lagen nebeneinander in
einer langen Reihe an den
Schienen – „eine Strecke wie
Hasen nach der Jagd“, sagt der
Jüterboger Ortschronist Henrik
Schulze Jahrzehnte später. Es
waren fast hundert Leichen.
Heute erinnert vor Ort nichts
mehr an die Katastrophe. „Für
uns sind alle diese
Sowjetsoldaten namenlos
gestorben“, so Schulzes bitteres
Resümee.
Vor genau 50
Jahren, am 1. März 1962 wenige
Minuten vor 19 Uhr, kam es
südlich von Trebbin
(Teltow-Fläming) zu einem der
größten Unfälle der deutschen
Eisenbahngeschichte. Ein
sowjetischer Militärtransport
kollidierte dort mit dem
planmäßigen D-Zug von Berlin
nach Leipzig. Die grausige
Bilanz: ein toter Reisender, an
die hundert tote Soldaten. Die
Schwere des Unglücks wurde in
den DDR-Medien damals komplett
verschwiegen. So ist in der
„Märkischen Volksstimme“ zwei
Tage später lediglich von dem
deutschen Toten und mehreren
Verletzten die Rede.
Es ist das
Verdienst des Jüterboger
Ortschronisten Henrik Schulze,
die Ereignisse am Bohldamm
zwischen Trebbin und Kliestow
der Vergessenheit entrissen zu
haben. Jahrelang sammelte er die
Berichte von Augenzeugen. Auch
MAZ-Leser Rainer Pannier aus
Blankenfelde (Teltow-Fläming)
trug zur Aufklärung bei. So
lässt sich zumindest der äußere
Ablauf des Unglücks inzwischen
ganz gut rekonstruieren.
Ein
sowjetisches Panzerbataillon war
offenbar auf dem Übungsplatz bei
Jüterbog zum Scharfschießen
gewesen. Am Abend des 1. März
rollt es per Bahn zurück in
Richtung Berlin. Erst 15
Plattenwagen, auf denen sich
jeweils zwei Panzer –
wahrscheinlich des damals eben
erst eingeführten Typs T-55 –
mit gekreuzten Kanonen
gegenüberstehen. Es folgen
sieben bis acht gedeckte
Güterwagen, von denen jeder an
die 30 bis 50 Soldaten
beherbergt, und weitere Waggons
mit Panzern und vielen
Lastwagen.
Doch an einem
der Panzer löst sich unbemerkt
die Arretierung der Kanone.
„Wahrscheinlich war es der
Panzer, der in Fahrtrichtung
direkt vor den gedeckten
Güterwagen stand“, berichtet
Schulze. Das Rohr schert nach
links aus – genau in dem Moment,
als auf dem Nachbargleis der
Schnellzug Berlin – Leipzig
entgegenkommt. „Zunächst schlägt
die Kanone gegen die Dampflok
und reißt die Wasserpumpe ab“,
so Schulze. Dann federt sie
zurück, trifft zwei, drei Wagen
später aber erneut auf den
entgegenkommenden Zug und bohrt
sich in die Fensterfront.
Einer der
Reisenden wird von dem Rohr
erfasst und über den
Militärtransport auf den
angrenzenden Acker geschleudert,
wo er tot liegenbleibt. Dass es
in dem D-Zug nicht wesentlich
mehr Opfer gab, lag
ausschließlich daran, dass sich
auf der dem Transport
zugewandten Seite der Gang der
Waggons und nicht die Sitzreihe
befand.
Chronist
Schulze hat herausgefunden, wer
der tödlich verletzte Reisende
war: der damals 38-jährige
Siegfried Morgenstern aus
Leipzig. Der Hobbyhistoriker
vermutet, dass dieser als
starker Raucher den Gang
aufsuchte, um Mitreisende nicht
durch den Qualm zu belästigen:
„Da erwischte ihn das
Kanonenrohr.“ Inzwischen hat
sich bei ihm auch der Sohn
Morgensterns gemeldet, der sich
noch daran erinnern kann, wie
die Volkspolizei in der Tür
stand und seiner Mutter die
Todesnachricht brachte. Damals
war er ein Schulkind.
Noch viel
schlimmer als die Passagiere des
D-Zuges traf es aber die
Insassen des Truppentransports
selbst. Durch den Aufprall
rutscht der Panzer nach hinten
auf die Kupplung, durchbricht
sie und stürzt auf das Gleisbett
– worauf der gesamte restliche
Zug mit ihm kollidiert und sich
mit ungeheuerer Wucht über dem
Stahlkoloss auftürmt. „Die
Güterwagen mit den Soldaten
schoben sich zu einem
Bretterhaufen zusammen“,
berichtet Schulze von seinen
Recherchen. Als die Freiwillige
Feuerwehr Trebbin kurz darauf an
der Unglücksstelle ankommt,
steckt sie ihre Leitern zu einer
einzigen Leiter von insgesamt 15
Metern Länge zusammen. „Damit
erreichten sie nicht einmal die
Spitze des Trümmerhaufens.“
Fatalerweise
wurden die im Volksmund
„Viehwaggons“ genannten
Güterwagen durch den Aufprall so
zerquetscht, dass die Bretter
der Wände zu gefährlichen
Splittern zerbarsten. Zeugen
berichten von grauenhaften
Verletzungen – so soll einem
Soldaten ein langer Holzsplitter
durch den Hals eingedrungen und
oben wieder aus dem Schädel
herausgefahren sein.
In dem
furchtbaren Durcheinander dieser
Nacht gab es nur einen kleinen
Lichtblick: „Der
Katastrophenschutz funktionierte
hervorragend. Wenn auch auf
einem bescheidenen Niveau,
damals hatte man ja noch keine
Handys“, erzählt Schulze. Sofort
nach den Unglück ruft der
zuständige Fahrdienstleiter den
Dienstvorsteher des Bahnhofs
Trebbin, Reinhold Pohl, zu Hause
an. Der fährt mit seinem
Dienstfahrrad zur Unfallstelle.
„Da sehe ich schon die Lok
stehen und die Güterwaggons,
übereinander getürmt“, so
erinnert sich der heute
83-Jährige. Ein Russe ruft
„Stoi!“ – aber Pohl, der seine
Uniform als Reichsbahner trägt,
kann ihn beruhigen. Der
Trebbiner Bahnhofschef radelt
ein paar Meter weiter zum
Schrankenposten 39 bei der
heutigen Straße An der Ziegelei,
wo damals ein schienengleicher
Bahnübergang war, und schlägt
Alarm. In Trebbin und in
umliegenden Orten heulen die
Sirenen.
Viele
Einwohner von Trebbin und
Luckenwalde erinnern sich heute
noch an das schreckliche
Geschehen. Und viele haben dem
Jüterboger Ortschronisten von
ihren Erlebnissen berichtet.
Erich
Maetz, damals
Vorsitzender der Trebbiner
Gärtnergenossenschaft, trifft
auf dem Heimweg von einer
Beratung in der Stadt auf
verletzte Sowjetsoldaten.
Schnell lädt er sie in seinen
achtsitzigen Kleinbus und fährt
sie ins Luckenwalder
Krankenhaus.
Der Lehrer
Herbert Bauer berichtet von
einer gespenstischen
Trümmerlandschaft, von
russischen Kommandos, dem
Brummen von Motoren und den
Schmerzensschreien der
Verwundeten. Überlebende
Soldaten haben inzwischen Feuer
angezündet, um wenigstens etwas
Licht zu haben und um sich in
der kalten Nachtluft daran zu
wärmen. Günter Schulz aus
Trebbin wird von der
Volkspolizei verpflichtet, mit
seinem Auto Verletzte in die
Klinik zu fahren. Sogar ein
Taxiunternehmer aus Jüterbog
wird engagiert, um von der Defa
in Potsdam-Babelsberg
Scheinwerfer zur Ausleuchtung
der nächtlichen Unfallstelle zu
holen.
Mittlerweile
treffen immer mehr sowjetische
Militärs ein. Ein Mitglied der
deutschen Transportpolizei
erinnert sich später, er habe
nie wieder „ so viele Generäle
auf einem Haufen gesehen“. Und
während Feuerwehrleute, Ärzte,
zum nächtlichen Dienst
einberufene
Schwesternschülerinnen im
Luckenwalder Krankenhaus und
einfache Bürger noch so gut
helfen, wie sie können, beginnt
die Vertuschung.
Bahnhofsvorstand Pohl erhält vom
Reichsbahnamt die Anweisung,
keinesfalls das übliche
Unfallmeldeblatt auszufüllen:
„Es durfte nichts aufgeschrieben
werden, keine Notizen, nichts.
Und über die Ursache durfte
schon gar nicht gesprochen
werden“, berichtet er. Einem
Angehörigen der Kriminalpolizei
wird damals gesagt: „Schreib ins
Protokoll, was du willst, die
sowjetischen Freunde kommen
jedenfalls nicht darin vor.“
Noch
schlimmer aber findet
Ortschronist Schulze, dass die
sowjetische Armee ihre
Verletzten am nächsten Morgen
noch vor Sonnenaufgang allesamt
wieder aus den deutschen
Kliniken abholte und auf offenen
Lastwagen mit unbekanntem Ziel
abtransportierte – egal ob sie
überhaupt transportfähig oder
frisch operiert waren. „Das war
an Grausamkeit kaum zu
überbieten“, sagt er.
Die äußeren
Folgen des Unfalls waren schnell
beseitigt. Am 2. März wurden die
Reste des Panzerzugs nach
Trebbin, der D-Zug nach
Luckenwalde gezogen, wie der
damalige Dienstvorsteher des
Bahnhofs Großbeeren
(Teltow-Fläming), Rainer
Pannier, der MAZ berichtete:
„Ein zerstörter D-Zug-Wagen lag
noch auf dem Acker.“ Dann wurden
die Trümmer beseitigt und die
Gleise in Ordnung gebracht. Zu
Beginn der Leipziger
Frühjahrsmesse wenige Tage
später rollten die Züge schon
wieder reibungslos.
Die
Erinnerungen an das Unglück aber
plagen manche heute noch. So
fragt sich Henrik Schulze, wo
wohl die toten sowjetischen
Soldaten geblieben sind. Die
Überführung von Verstorbenen mit
verlöteten Zinksärgen in die
Heimat war erst in den 1970er
Jahren üblich. Deshalb fürchtet
er, dass die Opfer irgendwo in
einer deutschen Garnison „in
aller Stille verscharrt worden
sind. Vielleicht werden wir beim
Bau eines Gewerbegebiets einmal
auf ein Massengrab stoßen.“ Und
Reinhold Pohl, der den Trebbiner
Bahnhof 1958 im Alter von 29
Jahren übernommen hatte, sagt:
„Ich war ja damals noch so jung.
Den Unfall werde ich niemals
vergessen.“ (Von Klaus Stark)
Ortschronist im
Ehrenamt:
Henrik Schulze hatte
gerade einen Bericht über das
Unglück in Forst Zinna
(Teltow-Fläming) verfasst, wo im
Januar 1988 ein Panzer mit einem
Reisezug zusammenstieß, da bekam
er einen Anruf von einem Leser.
„Der sagte zu mir, in Trebbin
sei 1962 etwas noch viel
Schlimmeres passiert“, berichtet
er.
Nirgendwo gab es darüber
Unterlagen. Bei einem
Heimatgeschichtlichen Stammtisch
meldeten sich erste Zeitzeugen,
Schulze fragte bei
Ex-Eisenbahnern nach, bei
Mitgliedern der
Transportpolizei. „Irgendwann
war die Sache dann rund“, sagt
der Hobbyhistoriker.
Der heute 61-Jährige
stammt aus Halbe
(Dahme-Spreewald), das dortige
Schlachtfeld des Zweiten
Weltkriegs, erzählt er, „war
mein Kinderspielplatz“. Mitte
der 1970er Jahre hat es ihn nach
Jüterbog (Teltow-Fläming)
verschlagen, wo er 1984
offiziell als Ortschronist
eingestellt wurde – gegen
monatlich 100 Mark und eine
geringe Aufwandsentschädigung.
Seit der Wende nimmt
Schulze diese Aufgabe
ehrenamtlich wahr. „Für mich ist
das ein Hobby, wie andere zum
Fußballspielen gehen“, sagt er
bescheiden. Der Historiker hat
mehrere Bücher zu
militärgeschichtlichen Themen
verfasst und gibt die
„Barbara-Meldung“ heraus. kra